der Lebensweg einer blinden Familie

Klappentext

Gibt es eine vollkommene Familie? – So wenig es den vollkommenen Menschen gibt, so gibt es keine Familie, die nicht wenigstens einmal vom Leben gezeichnet den Boden unter den Füßen verliert und vor lauter Verzweiflung nur noch unüberwindbare Berge sieht. Sind zudem alle Angehörigen dieser Familie blind – der hypersensible Uwe, Meike arbeitslos und die Tochter Elke in der Blindenschule –, erscheint es dem Außenstehenden umso tragischer. Als Blindenführhund Wendy, nach einer Vergiftung mit dem Tod ringend, zwar gerettet wird, später jedoch an den Folgen stirbt, steht Uwe vor einem Abgrund, dessen Auswirkungen zu einer Zerreißprobe des Ehepaares werden. Elke erlebt den Selbstmord ihres Schulfreundes und nimmt sich vor, den Schwächsten in der Welt zu helfen. Ihre durch die Vererbungsproblematik der Eltern selbst auferlegte Kinderlosigkeit lässt sie eine unerwartete Entscheidung treffen.

Vorwort
In diesem Band erleben wir wieder Meike und Uwe, die früher im Internat einer Blindenschule Mitschüler und Freunde waren und später in die Bundesrepublik flohen, als Ehepaar und Eltern einer blinden Tochter. Im real existierenden Sozialismus geboren, aufgewachsen und durch dessen Ideologie geprägt, mussten sie im Laufe der Jahre lernen, sich in einer Gesellschaft zurechtzufinden, die im nun zusammengebrochenen Sozialismus als Klassenfeind propagiert wurde.
Im zweiten Band dieser Trilogie zählte einer der Protagonisten Folgendes zum Thema „kapitalistische Gesellschaft“ auf: „Arbeitslosigkeit. Soziale Unsicherheit. Vereinsamung. Eine Politik, die nicht für den Menschen da ist, sondern nur für sich selbst. Eine gewinnorientierte Gesellschaft, die nur den Profit sieht, aber den Menschen vergisst, der diesen schafft. Eine Gesellschaft, deren Verstand in den Ellbogen, nicht aber im Kopf sitzt.“
All dies erlebt die Familie auf verschiedene Weise selbst und ist durch die Umwelt und manchen Mitmenschen gezwungen, sich anzugleichen. Ich bin froh über eine junge Frau, die durch sein soziales Engagement Licht in diese Welt bringen möchte, und über ein Mädchen, das, aufgrund seiner Behinderung scheinbar am Rand der Gesellschaft stehend, durch seine kindliche Art die Tür zu einer bürgerlichen Familie öffnet, die behinderten Menschen skeptisch gegenübersteht.

Thomas Löffler, im Frühjahr 2018

Erster Teil – Familienleben
Kapitel 1
Vorsichtig führte die Führhündin Wendy Uwe Jäger um einen Poller herum und blieb schließlich neben einer Ampel stehen.
„Fein gemacht“, lobte er seine Begleiterin und drückte den Knopf am Ampelmast. Auf ein Kommando hin führte ihn die Hündin an den Bordstein. Fast Stoßstange an Stoßstange fuhren die Autos vorbei.
„Rüber!“, kommandierte er die Hündin, als ein akustisches Signal „grün“ anzeigte. Gemächlich – Wendy hatte es nie eilig – führte sie ihn über die breite Straße. Das war geschafft. Die oft mehrspurigen Straßen und der starke Stadtverkehr waren Uwe verhasst. Seit seiner Flucht 1982 aus der DDR wohnte er in Berlin. Damals hatte er mit Meike Zieling, seiner Jugendfreundin aus dem Internat, zusammenkommen wollen. Die zu der Zeit Achtzehnjährige hatte wegen ihrer Mitgliedschaft in der Friedensbewegung kurz vor Ende ihrer Ausbildung die DDR verlassen. Voll Vertrauen in das, was sie verband, hatten sie gegen alle Anfechtungen und Sehnsüchte ihre Hoffnung auf ein Zusammenleben gesetzt.
In Gedanken versunken war Uwe stehen geblieben. Neben ihm liegend schaute Wendy fragend zu ihm auf. Als Hund war ihr der Augenkontakt unerlässlich. In einem Jahr hatte sie gelernt, Signale, so schwach diese auch waren, für sich zu deuten und danach zu handeln. Das Lächeln ihres Herrchens, der über die Vergangenheit nachdachte, zeigte ihr seine Gelöstheit und Freude. Fröhlich klopfte sie mit der Rute auf das Pflaster des Fußweges.
Das Lachen einiger Kinder ließ Uwe in die Gegenwart zurückkehren. Er griff nach dem Geschirrbügel und setzte zusammen mit Wendy seinen Weg fort. Unterwegs schweiften seine Gedanken ein weiteres Mal in die Vergangenheit. Als Klavierstimmer ausgebildet, hatte er sich Stück für Stück einen, wenn auch kleinen Kundenstamm aufgebaut. Trotzdem war ihm die Idee an eine Übersiedlung nicht aus dem Kopf gegangen. Ein Jahr nach seiner Flucht hatte er Meike geheiratet. Während dieser Zeit hatte sie als Schreibkraft in einer kleinen Firma gearbeitet, bis diese eines Tages pleitegegangen war und alle Mitarbeiter über Nacht ihren Arbeitsplatz verloren. Nun war es 1999 und Meike war immer noch arbeitslos. Uwe hingegen hatte sich nach seiner Flucht einen neuen, ziemlich beachtlichen Kundenstamm aufgebaut, sodass beide wirtschaftlich gut über die Runden kamen. Seit einiger Zeit war Meike ehrenamtlich beim örtlichen Tierschutz beschäftigt.
Wendy wollte auf einmal schneller gehen. Ihr Lieblingsbäcker war nicht mehr weit und sie zog spürbar am Geschirr. Vor dem Laden angekommen, kramte Uwe einen Einkaufszettel aus dem Rucksack und betrat, von Wendy geführt, das kleine Geschäft.
„Hallo Herr Jäger“, grüßte eine ältere Frau hinter dem Ladentisch. „Wenn ich Sie nicht hätte …“
„Guten Morgen, Frau Stadelmeier. Was würden Sie ohne mich tun?“
„Ich würde pleitegehen. Die Supermärkte nehmen mir die Kunden weg. Früher war alles anders.“ Uwe kannte diese Geschichten schon. Jeden Tag ging das so. Dabei war das kleine Lädchen weit und breit bekannt und gut besucht.
„Damit Sie nicht pleitegehen, hole ich meine Brötchen nur bei Ihnen.“
Wendy sprang mit den Vorderpfoten auf den Ladentisch und wedelte ausladend mit dem Schwanz. Uwe hatte es längst aufgegeben, sie davon abzuhalten.
Frau Stadelmeier lachte und wandte sich kurz ab. Auch das, was nun folgen würde, kannte Uwe schon. „Ich habe heute leckeren Zuckerkuchen“, hörte er die Frau sagen. Kurz danach schnappte Wendy nach der ihr dargebotenen Leckerei. Uwe schimpfte. „Sie wissen schon, dass ich das nicht mag.“
„Sie mögen es vielleicht nicht, aber Ihr Hund mag es“, entgegnete Frau Stadelmeier. „Er ist wirklich dünn. Ein Stückchen Kuchen wird er schon vertragen.“
Uwe gab es auf. Es war jeden Tag dasselbe. Nur der Speiseplan änderte sich. Gestern hatte es Mandelkuchen gegeben, den Tag davor Bienenstich. Er hätte schon längst den Bäcker gewechselt, wenn es hier nicht so gutes Brot geben würde. Er musste an Falko denken, Meikes Blindenführhund. Für einen Labrador untypisch, nahm er von niemandem Essen an.
Nachdem Uwe eine Tüte voll duftender Brötchen und ein Brot im Rucksack verstaut und bezahlt hatte, verließ er das Geschäft. Wendy leckte sich immer noch die Lefzen.
„Nach Hause!“, kommandierte Uwe, und aufgrund der Bewegung des Geschirrs konnte er ahnen, dass sich seine Hündin noch einmal nach dem Laden umschaute, bevor sie gemeinsam den Heimweg antraten.